Unter dem Schnee
- Jeanny
- 19. Feb. 2018
- 5 Min. Lesezeit
Mollig warm eingekuschelt in eine gemütliche Ecke des Sofas sitze ich zusammengekauert und starre aus dem Fenster ins winterliche Schneetreiben. Die Flocken tanzen und bilden eine dicke weisse Schicht vor dem Haus, das wir vergangenen Herbst bezogen haben. Unglaublich, was alles passiert ist in den vergangenen zwei Jahren meines Lebens. Als ich 2008 meinen Mann kennenlernte und mein Heimatland verliess, liess ich zu Hause alles stehen und liegen. Für ihn war es keine Option gewesen, seine Heimat zu verlassen, also tat ich es eben. Ich wollte eine echte Beziehung, wollte eine Familie, wollte diesen Mann. Warum gerade ihn, das kann ich heute nicht mehr beantworten. Ich finde einfach keine Antwort mehr darauf. Es sollten schwierige Zeiten auf mich zukommen, aber davon ahnte ich damals noch nichts. Oder ich wollte es vielleicht auch einfach nicht sehen. Viele hatten mich gewarnt vor meinem Umzug, aber ich wollte davon nichts hören. Ich wollte zu ihm stehen, also ging ich dieses Wagnis ein. Irgendwo zwischen seinen ständigen Entschuldigungen, den millionen Tränen und den völlig einsamen Nächten muss ich mich dann wohl selbst verloren haben. Mich, und alles was mich ausmachte. Meine überzeugungen, meine Werte, mein ganzes Selbstwertgefühl.
Anfangs versuchte ich mich noch selbst zu beruhigen, wenn er mal wieder den ganzen Abend vor dem Rechner verbrachte und alles um sich herum vergass, mich eingeschlossen. Schliesslich hatten wir das auch bereits gemeinsam oft getan: ganze Wochenenden mit Quests und Eroberungen in virtuellen Welten gefüllt. Es war in Ordnung. Es war sogar schön! Doch wenn ich nachts aufwachte und feststellen musste, dass ich alleine im Bett lag, beschlich mich eine Ahnung, dass etwas nicht in Ordnung war. Wenn ich dann auf dem Weg zur Toilette feststellte, dass er hinter geschlossener Türe am PC sass versuchte ich, mich so zu bewegen, dass die Dielen des Bodens nicht knarrten – zu gross war die Angst vor einer Auseinandersetzung a la "Wolltest du mich schon wieder kontrollieren?". Doch wenn ich am morgen danach die Haufen von benutzen Taschentüchern neben der Tastatur wegräumte überkam mich blanker Ekel. Er hatte keinen Schnupfen und war auch nicht so nah am Wasser gebaut, dass Tränen der Anlass für diese Tempo-Berge gewesen wären. Und ein schüchterner Blick in den Browserverlauf, bei dem ich stets ein schlechtes Gewissen spürte, bestätigte meine Ahnungen. YouTube-Videos von übergrossen Brüsten, Frauen die sich vor den Kameras räckelten und viel nackte Haut war seine heimliche Beschäftigung und der Grund für seinen hohen Verbrauch an Taschentüchern. Und nein, er hat sich nie die Mühe gemacht, diese selbst zu entsorgen. Aber gut, sowas machen Männer eben, dachte ich mir stets, und hielt lange Zeit den Mund. Irgendwann kamen Zweifel an mir selbst auf, in darauf folgenden Streits durch seine Vorwürfe bestätigt, bis ich schliesslich der festen überzeugung war, dass ich diejenige sei, die psychisch krank sei. Jahrelang kämpfte ich darum, dass diese Beziehung funktionierte. Versuchte meinen Platz neben diesem Mann zu finden zwischen all diesen Pixelfrauen, die irgendwie immer eine höhere Priorität zu geniessen schienen als ich selbst. Irgendwann kam ich nicht mehr umhin einzusehen, dass etwas in diesen 4 Wänden so gar nicht richtig lief und gestand mir ein, dass ich Hilfe brauchte. Ich fand sie auch, das Problem war nur die Diagnose: Ich war "Co-Abhängig". Der logische Schluss war: Er war süchtig. Ja, irgendein Teil von mir hatte das wohl schon die ganze Zeit gewusst. Aber mein Kopf wollte diesen Gedanken nicht haben, nicht zulassen, geschweige denn ihn zu Ende zu denken. Und so erfand ich neue Ausreden für meinen Kopf, die sein Verhalten irgendwie akzeptabel erscheinen lassen sollten. Die Sucht wurde immer stärker und ausgeprägter. Sein Verhalten mir gegenüber für Aussenstehende schon lange inakzeptabel, für mich schier unerträglich. Doch ich hielt es aus. Weil ich ihn liebte. Ich hielt es ingesamt 7 lange Jahre aus. Mehr noch: Ich schenkte ihm sogar ein Kind. Ich heiratete ihn trotz all der Streits, die seine Sucht regelmässig verursachten. Zwischen Kühlschrank und Toilette hatte er mich eines Abends gefragt, ob ich das nicht auch für eine gute Idee hielt, schliesslich würden wir dann Steuern sparen und das Kind bekäme dann automatisch die Staatsbürgerschaft. Wirkliche Alternativen sah ich damals nicht. Ihn zu verlassen hätte ich damals nie gewagt, schliesslich hatte er mir oft genug verkündet, dass ich von Glück reden könnte ihn zu haben. Mich würde ohnehin sonst keiner mehr wollen, ich sei ja auch nicht gerade mehr die Jüngste und eine Schönheitskönigin sei ich auch nicht. Und so wurde unsere Tochter geboren. Ein Sohn sollte 18 Monate später folgen und ich liebte die beiden über alles. Ich gab ihnen alles, was ich hatte, 24/7. Ich kümmerte mich allein um den Haushalt, um die Kinder, um die Einkäufe, um formelle Anträge, um die Finanzen, um die Mahnungen, um seine alten Schulden. Ich kümmerte mich um ihn, um die Kinder, um seine Eltern. 6 Jahre versuchte ich, mich selbst zu belügen und fand Ausreden, die seine Sucht und sein damit verbundenes Verhalten rechtfertigten. Und dann passierte etwas, das man wohl am ehesten "Schicksal" nennen könnte: Ich wurde ein drittes Mal schwanger. In der 11 Woche verlor ich mein drittes Kind. Und merkte, wie schrecklich einsam ich mit diesem Verlust war. Als ich weinend vor dem Sofa zusammenbrach tröstete er mich tätschelnd mit einer Hand, um nach wenigen Minuten seine Aufmerksamkeit zurück auf das Playstation-Game zu wenden. Das muss der Moment gewesen sein, in dem ich es endlich begriff: Ich fühle mich nicht nur einsam, ich BIN einsam. Als dann noch Dinge geschahen, bei denen meine Kinder mit seiner Sucht kollidierten, wusste ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Die Wochen vergingen, die Traurigkeit blieb. Und sie blieb nicht nur bei mir, sie blieb auch unbemerkt. Unbemerkt von ihm, an den ich mich hunderte Male mit der Bitte um Gespräche wand. Unbemerkt von den Schwiegereltern, denen ich einige Male verzweifelt mein Leid klagte. Unbemerkt von den früheren Freunden, von denen inzwischen keiner mehr übrig war, weil ich mich isoliert hatte. Sie blieb, bis ich nicht mehr konnte. Bis ich unbemerkt zusammenbrach. Bis ich unbemerkt allein wieder aufstand. Mich unbemerkt aus meiner Asche erhob und beschloss, dass ich die einzige bin, die an meiner Situation etwas ändern kann. Und so stellte ich ihn schliesslich vor die Tatsache, dass ich diese Ehe, die mir bis dahin heilig war, nicht bereit sei, weiterzuleben unter diesen Umständen. Dass ich gehen würde, wenn er nicht an seinem Problem arbeite.
Doch da er bei sich kein Problem sah, weder in seinem Verhalten mir gegenüber, noch in seiner Sucht, kam ein halbes Jahr später der unausweichliche Punkt, an dem sich unsere Wege trennten. An dem Tag, an dem er unter richterlicher Gewalt auszog und alles mitnahm, was ihm gehörte, weinte meine Tochter. Ich wollte sie trösten und nahm sie in den Arm. Um ihr mein Mitgefühl auszudrücken fragte ich sie, weshalb sie so traurig sei und versicherte ihr, dass sie Papa jederzeit besuchen könne. Sie sagte "Mama, ich bin doch gar nicht traurig weil Papa jetzt eine eigene Wohnung hat. Aber er hat den Fernseher mitgenommen! Wie soll ich denn jetzt mit dir Pingu schauen bevor wir ins Bett gehen?". In diesem Moment wusste ich: Ich hatte das einzig richtige getan.

Das ist nun 1,5 Jahre her, und langsam beginnt auch in mir, sich eine Schneedecke über all das zu legen. Zart und dünn, aber doch tatsächlich. Der Anblick des verwüsteten Bodens weicht einer Ruhe, einem Anblick wie dieser Schneelandschaft dort draussen vor dem Fenster. Mein "Herr Holle" lässt sie täglich dicker werden, diese Schneeschicht. Noch immer kann ich es kaum fassen: Ich habe es tatsächlich geschafft. Ich bin nicht kaputt gegangen an diesem Mann. An seiner Sucht. Ich habe es überlebt. Ich seufze und beginne dabei ein wenig zu lächeln. Hinter mir geht die Türe auf und da steht er: der Mann, der den Schnee fallen lässt.
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