Vom Kämpfen und Loslassen
- mamarebelmind
- 2. Dez. 2015
- 5 Min. Lesezeit

Wenn man Kinder bekommt verändert das alles. Das ist nichts Neues und dürfte inzwischen auch den vielen Kinderlosen klar sein. Dass die eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund treten und der Nachwuchs (zumindest meistens) an erster Stelle steht ist irgendwie klar und unumstritten – schon allein aufgrund der kognitiven Unfähigkeit sich zu gedulden, die bis zu einem gewissen Alter völlig normal ist. Vieles muss deshalb im Alltag geändert, Werte und Prioritäten überdacht werden. Erfahrungsgemäss bleibt das auch viele Jahre erst einmal so, denn die Sprösslinge werden so schnell gross und mit ihren Fähigkeiten verändern sich auch ihre Bedürfnisse. Was man ihnen beibringt und erklärt, welche Werte man ihnen vorlebt, welche Überzeugungen man weitergibt, das wissen viele Eltern oft schon vor der Geburt sehr genau. Denn in unserer modernen und gebildeten Gesellschaft springt man schliesslich nicht einfach ins kalte Wasser.
“Da musst du durch!”…
Wo kämen wir denn da hin?! Nein, ob im Sitzen oder Liegen geboren werden soll, ob gestillt wird und wie lange, ob das Kind einen Schnuller bekommt oder nicht, ob es im eigenen Zimmer schlafen wird oder zwischen Mama und Papa, in welchem Alter es schwimmen lernen wird und in welche Schule es einmal gehen wird – alles ist bereits gut geplant und meist wissenschaftlich fundiert. Man meint es ja auch durchaus ernst, es ist nicht nur die Vorfreude, nein, man möchte ja auch alles richtig machen. Und dann – ja dann ist das Kind plötzlich da. Ganz real. Ganz klein und zerbrechlich. Und so neu und unbekannt. Und so laut und fordernd. Und manchmal auch sehr diktatorisch. Und wenn man nach 3 fast schlaflosen Nächten des Hin-und Hertragens durch die Wohnung irgendwann so müde ist, dass man nicht mehr weiss ob Tag oder Nacht ist, dann kommen einem auch durchaus mal die Zweifel, ob die Autoren der zuvor gewälzten Bücher über Schnullerfreie Erziehung überhaupt jemals ein eigenes Kind zu betreuen hatten. Zu verlockend der Gedanke, mit Hilfe dieses kleinen Zugeständnisses endlich zu ein paar Minuten Schlaf zu kommen… Doch wehe dem, der sich noch nicht ganz sicher ist und Rat in Foren oder bei Freunden sucht: Hier erfahren wir dann häufig, dass wir “da durch müssen”, dass es “allen so geht” und dass das “nur Phasen” seien. Wir werden ermuntert uns durchzubeissen, zu kämpfen und stark zu sein. Das Ziel vor Augen wenden wir uns also wieder unserem Nachwuchs zu und laufen weiter durch die Nächte, manchmal am Rande der Verzweiflung, und nicht selten geht dabei sogar der Spass und die Freude am Kind gänzlich verloren.
Aufgeben vs. Loslassen
Wäre es nicht viel einfacher (und in diesem Beispiel sogar effizienter) von seinen anfänglichen Überzeugungen und Ansprüchen abzurücken? Wieso ist das so schwierig? Weil wir es als ein Aufgeben betrachten. Aufgeben, das heisst “sich geschlagen geben”. Eine Niederlage eingestehen. Im deutschen Duden findet sich folgende Beschreibung zum Wort:
mit etwas aufhören
sich von etwas trennen; auf etwas verzichten
als verloren oder tot ansehen, keine Hoffnung mehr auf jemanden setzen
nicht weitermachen; aufhören
(Sport) ein Spiel, einen Wettkampf vorzeitig abbrechen
Die negativen Assoziationen zu Schwäche, Verlust und Unterlegenheit sitzen so tief in unseren Köpfen, dass es uns schier unmöglich scheint, unser Vorhaben “aufzugeben”. Dabei könnte man doch eigentlich auch alles ein wenig anders betrachten, denn es gibt noch ein anderes Wort, das alles in einen irgendwie annehmbareren Kontext stellt: Loslassen. Sicher merkt ihr schon worauf ich hinaus will… Wenn ich von der Vorstellung

loslasse, anstatt mein Ziel aufzugeben, dann verliert die Sache ihren “Wett-kampfcharakter”. Im Zusammenhang mit Erziehung und Kindern scheint das auch noch kein allzu grosses Problem zu sein. Schliesslich müssen wir mit wachsender Selbstständigkeit der Kleinen das Loslassen ohnehin lernen. Da ist die Sache mit dem Schnuller doch eigentlich das perfekte Übungsfeld…
Diese Gedanken habe ich mir vor Jahren bereits gemacht. Seit dem habe ich hundertfach losgelassen und Abschied genommen von vielen kleinen und grossen Vorstellungen. Wie wichtig dieses Loslassen aber tatsächlich ist begreife ich eigentlich erst jetzt allmählich. Dieser innere Drang, immer und überall zu kämpfen, immer stark zu sein und bloss ja keine Schwäche zu zeigen indem man aufgibt, das ist auf Dauer nicht nur sehr anstrengend sondern auch zermürbend. Das Leben besteht aus vielen kleinen Kämpfen. Sie gehören zum Alltag. Sie zu meistern macht im Grunde den Grossteil unseres Dasein aus. Natürlich ist es wichtig, auch mal Durchhaltevermögen zu zeigen, an Dingen dran zu bleiben und sie auch bis zum Schluss durchzuziehen. Wer beim kleinsten Stolperstein alles hinwirft wird nie ein Ziel erreichen.
Gehen lassen was schadet
Doch wie bei so vielem ist es vermutlich auch hier die goldene Mitte, die das Mass sein sollte. Denn oftmals müssen wir nicht nur von Vorstellungen Ablassen, sondern auch von Menschen. Sei es, weil sie versterben oder weil sie sich in eine andere Richtung begeben als die, in die wir selbst wollen. Manchmal sogar, weil sie uns von unserem eigenen Weg abbringen oder uns schaden.
Wenn ich mir anschaue, wie viele Ehen derzeit geschieden werden könnte man den Eindruck gewinnen, Loslassen sei nicht unbedingt das Problem der westlichen Länder. Und dennoch lassen wir uns viel zu häufig leiten von den Ansprüchen, die andere an uns haben weil wir Angst haben nicht zu genügen. Wir können nicht Loslassen von der Vorstellung, die Anerkennung der Anderen zu brauchen. Wir verweilen in Freundschaften die uns schmerzen, weil man uns beibrachte, dass die Hoffnung zuletzt sterben würde. Was mit Sicherheit ein weiser Satz ist, aber bestimmt nicht so universell wie er gern genutzt wird. Wir halten fest an Erinnerungen, viele sogar an Dingen, die sie längst nicht mehr bräuchten. Der Begriff des “Messie” ist längst etabliert. Wir alle sind Messies, die an unendlich vielen Kleinigkeiten festhalten und für deren Erhalt kämpfen als ginge es um unser Überleben. So viel Kraft geht an Nichtigkeiten verloren, die uns im Grunde gar nichts nützen. So dass uns am Ende die Kraft fehlt um DAS zu kämpfen, was wirklich wichtig wäre. Um die Dinge, die uns wirklich am Herzen liegen und die uns im Kampf darum nicht nur Kraft kosten, sondern uns diese Kraft vielleicht hundertfach wieder zurückschenken könnten.
Nicht immer ist es ganz leicht zu entscheiden, in welche Kategorie etwas gehört: Kämpfen oder Loslassen. Aber wenn wir das mit unseren Kindern nicht schon früh genug üben und ihnen zutrauen, die Entscheidung darüber selbst zu überlassen, wie können wir dann von ihnen erwarten, später als Erwachsene fähig zu sein, bei den grossen Prüfungen des Lebens die richtige Entscheidung zu treffen? So dass sie aufrecht stehend sagen können “Nein, das muss ich Loslassen” oder eben kraftvoll einen Fuss vor den anderen zu setzen und den Weg zu gehen, um eine Herzenssache zu kämpfen?
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